Artikel zum Bundesteilhabegesetz

Sommerpause – in allen Ländern sind Schulferien. Mit dem parlamentarischen Verfahren zum Bundesteilhabegesetz, der angekündigten Vorstellung der inklusiven Lösung zur Zusammenführung der Eingliederungshilfe und Jugendhilfe für Kinder und Jugendliche mit Behinderungen und der Diskussion zum Wahlrecht nach erscheinen des Gutachtens wird es einen behindertenpolitisch spannenden Herbst geben. 

Für die Sommerlektüre hier ein Artikel zum Bundesteilhabegesetz, den ich für das Magazin „Lidwina“ geschrieben habe – unter Beobachtung der nordfriesischen Schafe auf dem Foto:

Schwarzes und graues Schaf auf grüner Wiese


Bundesteilhabegesetz

Konsequenzen und Möglichkeiten für Menschen mit Behinderungen

Aktivistinnen und Aktivisten im Rollstuhl ketten sich über Nacht im Berliner Regierungsviertel am Spreeufer fest. Mahnwachen und Demonstrationen finden regelmäßig in verschiedenen Städten statt. Die Petition „Recht auf Sparen und für ein gutes Teilhabegesetz“ ist mit über 335.000 Unterstützerinnen und Unterstützern eine der erfolgreichsten Online-Petitionen der Plattform Change.org. Die aktuellen behindertenpolitischen Gesetzgebungsverfahren der Bundesregierung, die schon verabschiedete Novellierung des Behindertengleichstellungsgesetzes und aktuell das Bundesteilhabegesetz, erregen die Gemüter der Menschen mit Behinderungen. 

Um was geht es?

Schon seit Jahren und Jahrzehnten wird eine grundlegende Reform der Eingliederungshilfe in der Sozialhilfe diskutiert. Eingliederungshilfe beziehen Menschen mit Behinderungen, wenn sie Assistenz und Unterstützung beim Wohnen, in der Schule und Ausbildung, bei der Teilhabe am Arbeitsleben und bei der Gestaltung von Freizeitaktivitäten brauchen. Eingliederungshilfe ist die Leistung für den Platz im Wohnheim oder in der Werkstatt für behinderte Menschen, aber auch für die persönliche Assistenz, die Menschen mit Behinderungen ein selbstbestimmtes Leben ermöglicht. Auch der und die Integrationshelferin und -helfer für die Unterstützung von Kindern mit Behinderungen in Kindertagesstätten und Schulen gehören dazu, ebenso wie die Gebärdensprachdolmetscher beim Studium für gehörlose Studierende. 

Das leistet die Eingliederungshilfe nur dann, wenn kein anderer Kostenträger wie Arbeitsagentur, Rentenversicherung, Unfallversicherung oder Integrationsamt zuständig sind. Die Eingliederungshilfe ist, wie die Hilfe zur Pflege, im Sozialgesetzbuch XII und damit in der Sozialhilfe eingegliedert und damit nachrangig. Deshalb müssen alle anderen Finanzierungsmöglichkeiten für die notwendigen Leistungen genutzt werden, das eigene Einkommen und Vermögen, auch von Ehe- und Lebenspartnerinnen und -partnern. Gerade dieser Punkt ist für die betroffenen Menschen eine massive Einschränkung von Lebensmöglichkeiten. Ehe und Partnerschaft, die Gründung einer Familie ist nur unter den Regeln der Sozialhilfe möglich. Zum Beispiel darf nur ein Vermögen von 2600 € angespart werden.

Positiv an der Eingliederungshilfe ist das Bedarfsdeckungsprinzip. Der gesamte notwendige Bedarf aufgrund von Behinderung muss vom Gesetz her abgedeckt werden und ist nicht begrenzt auf einen festen Betrag wie bei der Pflegeversicherung.

Im Jahr 2014 bezogen bundesweit laut statistischem Bundesamt 860.500 Empfängerinnen und Empfänger Leistungen der Eingliederungshilfe. Die Ausgaben liegen bei etwa 15 Milliarden Euro jährlich mit steigender Tendenz. Über 80 Prozent der Leistungen der Eingliederungshilfe gehen in den stationären und teilstationären Bereich, also in Wohnheime und Werkstätten für Menschen mit Behinderungen. Der UN-Fachausschuss zur Behindertenrechtskonvention hat dieses Verhältnis in der Staatenberichtsprüfung Deutschlands entschieden kritisiert und dringend empfohlen, inklusive Wohnangebote und Arbeitsangebote an Stelle der Sonderwelten für Menschen mit Behinderungen zu schaffen.

Bereits im Mai 2013 hat das Forum behinderter Juristinnen und Juristen einen Gesetzesentwurf vorgestellt, wie die Eingliederungshilfe als Bundesleistungsgesetz die UN-Behindertenrechtskonvention gezielt umsetzen und die Selbstbestimmung der Menschen mit Behinderungen stärken kann. Auch die Länder haben jahrelang im Rahmen der Arbeits- und Sozialministerkonferenz eine Neuausrichtung der Eingliederungshilfe gefordert. Die Behindertenbeauftragten von Bund und Ländern haben sich regelmäßig für ein gutes Bundesteilhabegesetz eingebracht.

Was ist der Auftrag für das Bundesteilhabegesetz?

Nach dem Koalitionsvertrag soll die Eingliederungshilfe zu einem modernen Teilhaberecht weiter entwickelt werden. Dabei sollen die Menschen mit wesentlicher Behinderung aus dem Fürsorgesystem der Sozialhilfe herausgeführt werden. Die Leistungen der Eingliederungshilfe sollen sich an dem persönlichen Bedarf orientieren und entsprechend einem bundeseinheitlichen Verfahren ermittelt werden. Das Wunsch- und Wahlrecht soll entsprechend der UN-Behindertenrechtskonvention berücksichtigt werden. Inhaltlich sind das vielversprechende Aussagen für die anstehende Weiterentwicklung der Eingliederungshilfe. Auch bei der Finanzierung sollen die Kommunen entlastet werden, in dem sich der Bund mit 5 Milliarden Euro an den Kosten der Eingliederungshilfe beteiligt. Bisher finanzieren Länder und Kommunen die Kosten der Eingliederungshilfe allein. Allerdings steht an einer anderen Stelle des Koalitionsvertrags, dass mit dem Bundesteilhabegesetz keine neue Ausgabendynamik entsteht. Dieser deutliche Hinweis auf Sparen wird die inhaltlich ambitionierte Neuregelung der Eingliederungshilfe immer wieder bestimmen.

Wie kam das Bundesteilhabegesetz zustande?

Vom Juli 2014 bis zum April 2015 hat das Bundessozialministerium mit einer hochrangigen Arbeitsgruppe mit Vertreterinnen und Vertretern der Verbände von Menschen mit Behinderungen, der Länder und Kommunen sowie der Sozialpartner und Sozialversicherungen einen intensiven Beeiligungsprozess zur Erarbeitung des Bundesteilhabegesetzes durchgeführt. Hier wurden Eckpunkte und Ausrichtung diskutiert. Im Herbst 2015 sollte dann der Gesetzentwurf vorgestellt werden – und es begann das lange Warten. Der Termin zur Vorstellung wurde verschoben, weil andere Gesetzesvorhaben Vorrang hatten. Zwischendurch sickerte Anfang 2016 ein Arbeitsentwurf des Gesetzes durch, der für Aufregung sorgte, besonders weil bei der Anrechnungen vom Einkommen und Vermögen und beim Wunsch und Wahlrecht, also der Selbstbestimmung bei der Leistungserbringung, Verschlechterungen gegenüber der bisherigen Situation zu befürchten waren. 

Währenddessen zögerte sich die Veröffentlichung des Gesetzesentwurfs weiter hinaus, diesmal weil Bayern wegen der Flüchtlingspolitik insgesamt eine Blockadehaltung zu den laufenden Gesetzesvorhaben im Bund aufgebaut hatte. Für die Menschen mit Behinderungen war es ernüchternd, wie das wichtigste behindertenpolitischen Vorhaben der Bundesregierung immer weiter nach hinten auf der politischen Agenda rückte. Und langsam wurde die Zeit knapp, denn ein so umfangreiches Gesetz muss auch von Bundestag und Bundesrat intensiv beraten werden.

Eine weitere Enttäuschung gab es bereits im Frühjahr 2015. Die Koalitionsspitzen auf Bundesebene einigten sich darauf, den geplanten Anteil des Bundes von 5 Milliarden Euro nicht mehr an die Eingliederungshilfe zu koppeln, sondern den Kommunen auf anderem Weg zukommen zu lassen. Damit war die finanzielle Grundlage für die wirksame Weiterentwicklung der Eingliederungshilfe entzogen. Inhaltliche Verbesserungen mussten auf andere Finanzierungsgrundlagen gestellt werden. Der Vorschlag der Länder für ein Teilhabegeld für Menschen mit Behinderungen hatte endgültig keine Chance mehr.

Im April 2016 wurde der Referentenentwurf des Bundesteilhabgesetzes endlich veröffentlicht. Das Gesetz umfasst mit Begründung fast 400 Seiten. Als Artikelgesetz werden zahlreiche Änderungen in Sozialgesetzbüchern und anderen Gesetzen vorgenommen, die im Zeitraum von Januar 2017 bis zum Jahr 2020 in Kraft treten sollen. Schließlich hat im Juni 2016 das Bundeskabinett den Gesetzesentwurf verabschiedet und Bundestag und Bundesrat zugeleitet. Dort soll bis Ende des Jahres das Bundesteilhabegesetz beschlossen werden.

Was ist im Bundesteilhabegesetz vorgesehen?

Zunächst wird die Eingliederungshilfe als neuer Teil in das Sozialgesetzbuch IX eingeordnet. Damit findet die Eingliederungshilfe sichtbar Platz in einem modernen, an Teilhabe und Rehabilitation ausgerichteten Gesetzesrahmen. Dies entspricht einer Forderung der Behindertenbeauftragten von Bund und Ländern. Bei genauerer Analyse ist der bisherige Geist der Sozialhilfe trotzdem weiter vorhanden. Das Nachrangigkeitsprinzip bleibt bestehen, die Eingliederungshilfe ist keine eigenständige Leistung sondern kann weiterhin nur dann in Anspruch genommen werden, wenn alle anderen Kostenträger nicht oder nicht ausreichend leisten.

Bei der Anrechnung von Einkommen bleibt es weiter, allerdings werden Eigenbeiträge neu berechnet und das verbleibende Vermögen auf 25.000 Euro und später auf 50.000 Euro erhöht. Durch die massiven Proteste der vergangenen Woche wurde immerhin im Kabinettsentwurf das Partnervermögen von der Anrechnung frei gestellt. Allerdings gilt das nur für die Phase der Erwerbstätigkeit. Für Menschen mit Behinderungen im Ruhestand die nicht erwerbstätig sind oder sein können, sowie bei schwerpunktmäßiger pflegerischer Unterstützung bleibt es im Wesentlichen bei den bisherigen Regelungen zur Anrechnung und Vermögen. Beim Einkommen kann es bei einem Bruttoeinkommen ab 4.000 Euro sogar zu Verschlechterungen gegenüber den aktuellen Regelungen kommen. Weitere Schritte zur Einkommens- und Vermögensfreiheit sind nicht vorgesehen.

Die Zugangsvoraussetzung für Leistungen der Eingliederungshilfe wird auf den ICF, die internationale Klassifizierung von Beeinträchtigung und Funktionen umgestellt. Gegenüber der bisherigen sehr medizinisch ausgerichteten Regelungen der Eingliederungshilfe ist das eine zeitgemäße Änderung. Allerdings mit dem Haken, dass in fünf von neun Lebensbereichen wie Mobilität, Kommunikation, Selbstversorgung und weitere Bereiche personelle oder technische Unterstützung beziehungsweise in drei Lebensbereichen personelle und technischer Unterstützung notwendig sind. Hier wird von den Verbänden der Menschen mit Behinderungen befürchtet, dass zukünftig Leistungsbezieherinnen und -bezieher heraus fallen, beispielsweise dass die Studienassistenz von blinden und sehbehinderten oder von hörbehinderten Studierenden zukünftig nicht mehr finanziert wird. Für die Umstellung auf die zeitgemäße ICF-Klassifizierung braucht es nach meiner Einschätzung eine Erprobungsphase, bevor im Gesetz eine Anzahl von Lebensbereichen festgelegt wird.

Ein weiterer kritischer Punkt betrifft das sogenannte „Zwangspoolen“ von Leistungen und die Zumutbarkeit von Versorgung in einem Wohnheim für Menschen mit Behinderungen. Ohne Zustimmung und nach Prüfung der Zumutbarkeit kann die Verwaltung eine gemeinschaftliche Leistungserbringung oder die Unterbringung in einem Wohnheim beschließen. Gemeinschaftliche Leistungserbringung bedeutet, dass sich Menschen mit Behinderungen ihre Assistenz oder Unterstützung teilen müssen. Beim Einsatz von Integrationshelferinnen und -helfern in Schule und Kita mag das noch sinnvoll sein, führt aber zur Einschränkung von Selbstbestimmung, wenn ich nicht mehr selbst entscheiden kann, wo, wann und durch wen meine Assistenz erbracht wird. Die Zumutbarkeit eines Wohnheims, wenn es günstiger als andere Leistungsformen ist, stellt sich für mich als unvereinbar mit Artikel 19 der UN-Behindertenrechtskonvention dar, nach dem kein Mensch mit Behinderung gezwungen werden darf, in besonderen Wohnformen für Menschen mit Behinderungen zu leben. Im Gesetz fehlt der eindeutige Vorrang inklusiver Leistungserbringung, so wie bisher der Vorrang ambulanter vor stationärer Versorgung besteht.

Für den Bereich des stationären Wohnens für Menschen mit Behinderungen wird es wichtige Änderungen geben. Existenzsichernde und Fachleistungen werden getrennt. Für Menschen mit Behinderungen im Wohnheim hat die Eingliederungshilfe bisher die Lebenshaltungskosten und die Leistungen für den behinderungsbedingten Bedarf zusammen erbracht. Das soll jetzt geändert werden. Die existenzsichernden Leistungen werden über die Grundsicherung erbracht. Die aufgrund von Behinderung notwendigen Kosten für Unterstützung und Assistenz werden als Fachleistung gewährt. Das ist eine wichtige Angleichung des stationären an den ambulanten Bereich. 

Ein gutes Potenzial bietet die im Gesetz vorgesehene unabhängige Beratung. Im Sinne des Peer Counseling, also der Beratung von und für Menschen mit Behinderungen sollen flächendeckend Beratungsangebote unabhängig von Leistungserbringern und Leistungsträgern entstehen. Allerdings ist die Finanzierung bis 2022 begrenzt. Damit lässt sich nur schwer eine stabile und vernetzte Beratung sichern.

Aus rheinland-pfälzischer Sicht ist die bundesweite Einführung des Budget für Arbeit erfreulich. Damit haben wir in Rheinland-Pfalz seit Jahren gute Erfahrungen für den Übergang von der Werkstatt für behinderte Menschen auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt gemacht. Mit dem Budget für Arbeit kann eine dauerhafte Unterstützung für Unternehmen gegeben werden, die Menschen mit Behinderungen sozialversicherungspflichtig auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt alternativ zur Werkstatt für behinderte Menschen beschäftigen. Leider sind die vorgesehenen Förderungen niedriger als die Praxis in Rheinland-Pfalz. Das kann zu einer Einschränkung der Wirksamkeit des Budgets für Arbeit führen.

Weitere Änderungen betreffen die Stärkung der Interessenvertretung für Menschen mit Behinderungen in den Werkstätten und Unternehmen. Die Werkstatträte erhalten erstmals Mitbestimmungsrechte und nicht nur Mitwirkungsmöglichleiten. In den Werkstätten für behinderte Menschen werden Frauenbeauftragte eingerichtet. Auch die Rechte der Schwerbehindertenvertretung in Betrieben des allgemeinen Arbeitsmarkts werden leicht verbessert. So werden Freistellungen für die Schwerbehindertenvertretung bereits ab 100 statt wie bisher bei 200 schwerbehinderten Beschäftigten geregelt, was der wichtigen Aufgabe der Schwerbehindertenvertretung für die Inklusion im Arbeitsleben zugutekommt. Leider ist die Erhöhung der Ausgleichsabgabe für Unternehmen, die nicht die Beschäftigungsquote schwerbehinderter Menschen erreichen, nicht vorgesehen, wie es von Gewerkschaften und Verbänden der Menschen mit Behinderungen gefordert wurde.

Weitere Regelungen betreffen unter anderem das Vertragsrecht mit den Leistungserbringern, die Koordinierung der verschiedenen Leistungsträger und die Zulassung anderer Anbieter zu den Werkstätten für behinderte Menschen.

Fazit und Ausblick – was bringt das Bundesteilhabegesetz für Menschen mit Behinderungen

Das Bundesteilhabegesetz steht sowohl unter dem Anspruch, die Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention in Deutschland voranzubringen, als auch weitere Kostensteigerungen zu vermeiden. Der Aspekt der Umsetzung des menschenrechtlichen Ansatzes der UN-Behindertenrechtskonvention ist unter diesen Vorzeichen nur ansatzweise gelungen. 

Chancen des Gesetzes können genutzt werden, um eine bessere Koordinierung von Teilhabeleistungen der Kostenträger zu erreichen und eine personentrierte Leistungsgewährung umzusetzen. Unter der Vorgabe des Sparens können die neuen Regelungen der Anspruchsvoraussetzungen und der Teilhabeplanung aber auch zum restriktiven Leistungsgewährung und einer geringeren Anerkennung von Bedarfen genutzt werden.

In den kommenden Wochen und Monaten des zweiten Halbjahres 2016 müssen daher die Beratungen im Bundestag und Bundesrat genutzt werden, um bessere Regelungen im Gesetz für die Menschen mit Behinderungen zu erreichen. Die Verbände der Menschen mit Behinderungen und die Behindertenbeauftragten von Bund und Ländern werden sich dafür einsetzen.

Matthias Rösch

Landesbeauftragter für die Belange behinderter Menschen Rheinland-Pfalz