Wie kann bürgerschaftliches Engagement den gemeinsamen Unterricht und das lebenslange gemeinsame lernen von Menschen mit und ohne Behinderungen unterstützen. Das war Thema des Dialogs Forums Inklusion des Bundesnetzwerks bürgerschaftliches Engagement in Berlin.
Hier konnte ich die rheinland-pfälzischen Erfahrungen mit dem weiteren Ausbau von gemeinsam Unterricht in Rheinland-Pfalz vorstellen. Auch unsere Rahmenbedingungen, wie wir mit Aktionsplan und einem breiten zivilgesellschaftlichen Engagements die UN Behinderten Rechts Konvention in Rheinland-Pfalz umsetzen war Thema meines Beitrages.
Die Veranstaltung fand in den Räumen des Generalsekretariats des Deutschen Roten Kreuzes in Berlin statt. Die Vizepräsidentin des DRK Donata Schenck zu Schweinsberg schilderte die Aktivitäten ihrer Organisation zur Umsetzung der UN Behindertenrechtskonvention. Das war ein guter Anlass, ihr unseren rheinland-pfälzischen Staffelstab zu übergeben. Hier Bilder von der Übergabe und der Veranstaltung:
Hier mein Artikel, den ich für den Newsletter des Bundesnetzwerks geschrieben habe:
Inklusive Bildung und bürgerschaftliches Engagement
Matthias Rösch, Landesbeauftragter für die Belange behinderter Menschen Rheinland-Pfalz
„Mehr als 80 Prozent aller behinderten Kinder gehen in Regelschulen. Das hat zu einer Normalisierung des ganzen Themas beigetragen. Briten meines Alters sind es gewohnt, mit behinderten Menschen umzugehen, weil sie fast alle behinderte Mitschüler hatten. Umgekehrt sind behinderte Menschen in meinem Alter in Regelschulen gegangen und waren von Anfang an Teil der Gesellschaft und nicht in Sondereinrichtungen. Das verändert die Gesellschaft enorm.“ So schildert die aus Mainz stammende und in London lebende behinderte Journalistin Carlotte Link die Wirkung schulischer Inklusion in England.
Im Vergleich dazu besuchen in Deutschland derzeit etwa 30 Prozent den gemeinsamen Unterricht mit nichtbehinderten Kindern und Jugendlichen. Vor fünf Jahren ist die UN-Behindertenrechtskonvention in Deutschland in Kraft getreten. Immer noch ist eher der gemeinsame Unterricht von Kindern und Jugendlichen mit und ohne Behinderungen die Ausnahme und nicht die Regel. Dennoch hat die UN-Behindertenrechtskonvention eine breite und kontroverse öffentliche Debatte über den Aufbau eines inklusiven Schulsystems ausgelöst. In den Bundesländern wurden und werden Schulgesetze angepasst, um den menschenrechtlichen Ansatz der UN-Behindertenrechtskonvention entgegen zu kommen.
Situation in Rheinland-Pfalz
Bereits im März 2010 hat die Landesregierung als erstes Bundesland einen Aktionsplan zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention beschlossen. In zehn Handlungsfedern sind mit knapp 200 Maßnahmen die Aktivitäten ressortübergreifend aufgeführt. Jedes Ministerium hat für seinen Aufgabenbereich Maßnahmen und Ziele genannt, vom Umwelt- über das Sozialministerium bis zum Innenressort. Inklusion ist Querschnittaufgabe.
Für jedes der Handlungsfelder wurde zusammen mit dem Landesbeirat zur Teilhabe behinderter Menschen Visionen entwickelt. Welches Bild haben wir von Rheinland-Pfalz haben, wenn in 20 bis 30 Jahren die UN-Konvention umgesetzt ist. Danach sind die Ziele und Maßnahmen des Aktionsplans ausgerichtet. Für das Handlungsfeld „Erziehung und Bildung“ lautet die Vision:
„In Rheinland-Pfalz findet Lernen lebenslang gemeinsam statt. Kinder und Jugendliche mit Beeinträchtigungen besuchen die gleichen Schulen wie nicht beeinträchtigte Kinder in der Gemeinde, nachdem sie zuvor gemeinsam in denselben Kindertagesstätten waren. Sie werden in ihren individuellen Stärken und Besonderheiten unterstützt und respektiert sowie durch ihr Umfeld und durch pädagogische, medizinische und therapeutische Begleitung gefördert.“
Auf dem Weg dorthin sind in Rheinland-Pfalz bereits in der Vergangenheit wichtige Schritte unternommen worden. In den 1980er Jahren wurden die ersten Schulversuche für gemeinsamen und zieldifferenten Unterricht in Mainz und Trier in den Grundschulen unternommen. 1990 wurden an 18 Schulstandorten Integrationsklassen eingerichtet. 1995 wurden dann die Erfahrungen des gemeinsamen Unterrichts in der Sekundarstufe I weiter geführt. Mit der Einführung der Schwerpunktschulen in 2001 kam man von einzelnen Schulversuchen zu einem flächendeckenden Angebot von gemeinsamem Unterricht. Mittlerweile gibt es 277 Schwerpunktschulen in ganz Rheinland-Pfalz davon 160 Grundschulen und 117 Schulen im Bereich der Sekundarstufe I. Gymnasien fehlen leider noch als Schwerpunktschulen, obwohl bereits seit 2004 im Schulgesetz geregelt ist, dass es Aufgabe aller Schulen ist, bei der Integration von Schülerinnen und Schülern mit sonderpädagogischem Förderbedarf mitzuwirken.
Die rot-grüne Landesregierung hat im Koalitionsvertrag aus dem Jahr 2011 die Novellierung des Schulgesetzes vereinbart. Zentrale Elemente der Schulgesetz-Novellierung sind:
• Die Einführung des vorbehaltlosen Wahlrechts für Eltern von Kindern und Jugendlichen mit Behinderungen auf gemeinsamen Unterricht
• Die Weiterentwicklung von Förderschulen zu Förder- und Beratungszentren, welche die allgemeinen Schulen für die Einbeziehung von Kindern und Jugendlichen mit Behinderungen beraten und unterstützen
• Die rechtliche Absicherung der Schwerpunktschulen
• Einen Unterstützungsfonds für die Kommunen
Wesentliche Voraussetzung für das Gelingen der Umsetzung von Inklusion an den Schulen ist, dass Inklusion als gemeinschaftliche Aufgabe des gesamten Kollegiums und des gesamten Teams (einschließlich der Integrationshelferinnen und –helfer) umgesetzt wird – und nicht die Förderlehrkraft allein für die Inklusion zuständig ist. Weitere Voraussetzung ist der Einsatz von offenen Unterrichtsformen und differenzierten Unterrichtsmethoden.
In Rheinland-Pfalz gibt es bereits beispielhaft inklusiv arbeitende Schulen, wie die Verleihung des Jakob- Muth-Preises an die Brüder-Grimm-Schule in Ingelheim im Jahr 2014 zeigt. In diesem Jahr haben wir einen eigenen Landespreis für inklusive Schulen in Rheinland-Pfalz ausgeschrieben.
Bei dem Gipfel „Inklusion – die Zukunft der Bildung“ der UNESCO, der im März 2014 in Bonn stattfand, wurde im Beitrag aus Kanada deutlich, wie wichtig die Arbeit mit den vorhandenen Teams an den Schulen ist. Ein inklusives Schulsystem kann nicht erst beginnen, wenn Lehrerinnen und Lehrer im Studium darauf vorbereitet sind. Mit den vorhandenen Kollegien vor Ort in den Schulen zu arbeiten, eine inklusive Schule zu gestalten, ist der Schlüssel zum Erfolg.
Die Ausbildung und die Fort- und Weiterbildung der Lehrerinnen und Lehrer für inklusiven Unterricht ist eine wichtige Voraussetzung. Aktuell wird im Parlament das Landesgesetz zur Stärkung der inklusiven Kompetenz und der Fort- und Weiterbildung von Lehrkräften behandelt. Damit werden in allen drei Phasen der Aus- und Fortbildung von Lehrkräften Inklusion verpflichtender Bestandteil.
Die sonderpädagogische Kompetenz zu erhalten und in das allgemeine Schulsystem einzubringen, ist Aufgabe der neuen Förder- und Beratungszentren sein. Zum Beispiel unterstützen die Landesschulen für hörbehinderte und gehörlose Schülerinnen und Schüler sowie die Landesschule für blinde und sehbehinderte Schülerinnen und Schüler bereits seit Jahren die allgemeinen Schulen dezentral mit sonderpädagogischen Fachkräften in allen Regionen des Landes. Um familienferne Internatsunterbringung der Kinder und Jugendlichen mit Behinderungen zu vermeiden, sind die Förder- und Beratungszentren zur Unterstützung der Schulen vor Ort der richtige Weg. Deshalb ist nur Folgerichtig, dass die drei Landesschulen zu den ersten zwölf Förder- und Beratungszentren gehören.
Die Novellierung des Schulgesetzes ist ein Meilenstein auf dem Weg zu einem inklusiven Schulsystem als Auftrag aus der UN-Behindertenrechtskonvention. Die Schwerpunktschulen sind für mich allerdings nur ein Zwischenschritt. Als mittel- bis langfristiges Ziel eines inklusiven Schulsystems wird jede Schule an jedem Ort behinderte und nichtbehinderte Schülerinnen und Schüler aufnehmen können.
Die Umsetzung dieses Ziels konnte eine Delegation aus Rheinland-Pfalz im April 2014 bei der Inklusionstour nach Südtirol erleben. Dort sind seit 35 Jahren die Sonderschulen abgeschafft. Gemeinsamer Unterricht ist dort überall Realität. Mich hat besonders die Haltung der Schulleitungen beeindruckt, dass die Schule Verantwortung für ihre Gemeinde und für alle Schülerinnen und Schüler des Ortes hat – und diese Verantwortung als Aufgabe selbstverständlich wahrnimmt. Alle gehören dazu, niemand wird ausgeschlossen und auf Sondereinrichtungen nur für Menschen mit Behinderungen verwiesen.
Thesen zu bürgerschaftlichem Engagement und inklusiver Bildung
Meine Erfahrungen mit der Weiterentwicklung eines inklusiven Bildungssystems, den Besuchen in inklusiv arbeitenden Schulen, den Diskussionen im Rahmen der Novellierung des Schulgesetzes und im Landesbeirat zur Teilhabe behinderter Menschen und auch aus meiner persönlichen Erfahrung als Behinderter möchte ich in den folgenden Thesen zusammen fassen:
1. Inklusiv arbeitende Schulen sind am Sozialraum orientiert und für Unterstützung offen. Inklusion lebt mit und ist auf bürgerschaftliches Engagement angewiesen. Das gilt auch für weitere Bildungseinrichtungen wie Hochschulen, Volkshochschulen und Kitas.
2. Bewusstseinsbildung, Information und Aufklärung über Inklusion als Menschenrecht sind eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Die Schule ist Ort für alle Bürgerinnen und Bürger der Gemeinde – und alle Bürgerinnen und Bürger können mit positiven Beispielen, mit ihrer Kreativität und offenen Haltung für ein Gelingen von Inklusion an den Schulen beitragen.
3. Die Umsetzung von angemessenen Vorkehrungen, zum Beispiel Maßnahmen zur Barrierefreiheit, Akustikdecken oder die Anschaffung angepasster Lehrmaterialien können mit dem Einsatz bürgerschaftlichen Engagements erleichtert werden, auch wenn das grundsätzlich Aufgabe des Schulträgers ist.
4. Gegenseitige Stärkung und Selbsthilfe sind prägend für den Aufbau inklusiver Schulen. Ohne das bürgerschaftliche Engagement der Eltern von Kindern mit Behinderungen für inklusive Schulen und den Einsatz der Selbstvertretung der Menschen mit Behinderungen wären wir heute nicht so weit. Dieser Einsatz bleibt nach wie vor notwendig.
Inklusion in der Bildung ist der Schlüssel für die Gestaltung einer inklusiven Gesellschaft. Bürgerschaftliches Engagement ist untrennbar damit verbunden. Wir alle können dazu beitragen, den Leitsatz „Leben wie alle – mitten drin von Anfang an“ mit Leben zu füllen.