Unsere mittlerweile sechste rheinland-pfälzische Inklusionstour ging in diesem Jahr nach Barcelona. Fast 25 Jahre nach Verabschiedung der Barcelona-Erklärung „Die Stadt und die Behinderten“ sind wir mit 40 Personen aus Rheinland-Pfalz in die katalanische Hauptstadt gereist. Die Gruppe bestand aus Interessenvertreterinnen und -vertretern aus den Kommunen, der Selbsthilfe und Selbstvertretung von Menschen mit Behinderungen, der Schwerbehindertenvertretung aus den Betrieben, Beraterinnen der Ergänzenden Unabhängigen Teilhabeberatung (EUTB) und von Werkstatträten.
Viele Städte in Deutschland sind der Barcelona-Erklärung als kommunaler Selbstverpflichtung für die Gleichberechtigung von Menschen mit Behinderungen und zur Barrierefreiheit beigetreten. Deshalb wollten wir uns am Ursprungsort der Barcelona-Erklärung, die bereits in den neunziger Jahren die Grundgedanken der UN-Behinderten-Rechtskonvention vorgegriffen hat, einen Eindruck von ihrer Umsetzung verschaffen.

Ankunft im barrierefreien Hotel Ilunion in Barcelona
Informationsveranstaltung der städtischen Vertretung
Der erste Tag des Besuchsprogramms startete mit einer Informationsveranstaltung der „Städtischen Vertretung für Menschen mit Behinderung“ (Instituto Municipal de Personas con Discapacidad – IMDP). Ramon Lamiel i Villaró, der Leiter des Instituts und seine Kolleginnen und Kollegen erläuterten uns die umfassenden Strategien und Maßnahmen für Inklusion in den Bereichen Wohnen, Selbstbestimmt Leben, Arbeit, Mobilität und Barrierefreiheit für Menschen mit Behinderungen in der Metropole Barcelona.

Ramon Lamiel erläutert die Strategie der Stadt Barcelona
Die Hälfte der 20 Mitglieder des IMDP-Leitungsgremiums sind selbst Menschen mit Behinderungen, die von den Menschen mit Behinderungen in Barcelona gewählt werden. Dadurch wird die Partizipation durch die betroffenen Menschen gewährleistet. Das IMDP verfügt über ein Budget in Höhe von 15 Mio Euro, das für Umbauten, Kulturangebote, Mobilitätsunterstützung, Sportangebote etc. im inklusiven Bereich genutzt wird. Derzeit werden etwa 1700 Kinder und Jugendliche mit Beeinträchtigungen im Bereich Frühförderung und Bildung finanziell unterstützt. 1000 Menschen konnten auf den ersten Arbeitsmarkt vermittelt werden.
Die Zielformulierung des IMDP ist: „Wir wollen alle Bereiche des öffentlichen Lebens zugänglich und inklusiv gestalten. Immer im Fokus soll die Selbstbestimmung und Autonomie nach dem Vorbild der UN-Behindertenrechtskonvention stehen.“
Der Umsetzung dieses Ziels wird besonders im Bereich der Barrierefreiheit vorangetrieben. Dazu wird die Barrierefreiheit der ganzen Stadt systematisch erhoben. Mittlerweile sind 30 von 73 Stadtteilen auf erfasst worden. Beinahe alle Bordsteine der Stadt sind abgesenkt und 90 % des öffentlichen Nahverkehrs sind barrierefrei. Bei besonderem Bedarf aufgrund der Behinderung können barrierefrei umgebaute Taxis zum Bus-Tarif von 2,20 Euro genutzt werden. Der rollstuhlgerechte Umbau der Taxis wird durch eine bevorzugte Vergabe von Konzessionen gefördert.
Im Bereich der Persönlichen Assistenz gibt es bisher lediglich 127 Assistentinnen und Assistenten die 56 Personen unterstützen. Die Ziele der Enthospitalisierung und der systematischen Auflösung der Wohnheime sind sowohl von Seiten der Einrichtungen als auch der Regierung gewünscht, so Lamiel.
Auf den Straßen von Barcelona gehören Elektro-Kleinstfahrzeuge (E-Scooter bzw. Roller) zum Alltag. Deren Zulassung im Straßenverkehr auf den Gehwegen wird aktuell in Deutschland von den Verbänden der Menschen mit Behinderungen heftig kritisiert. Auch in Spanien und Barcelona gab es damit Probleme. Mittlerweile gibt es eine neue gesetzliche Regelung, nach der Elektro-Kleinstfahrzeuge nur noch auf Radwegen fahren dürfen. Ausnahmen gelten Nachts für Gehwege, wenn sie breit genug und wenig genutzt sind. Begünstigt wird diese Regelung dadurch, dass in Barcelona das System an Radwegen und -Spuren extrem gut ausgebaut ist. Überall ist Platz zum Radfahren vorgesehen.

Aufmerksamkeit für die Informationen aus Barcelona
Von den Maßnahmen zur Barrierefreiheit in der Stadt mit Bürgersteigabsenkungen, Leitsystemen und barrierefreien Gebäudezugängen konnten wir uns im Anschluss an den Termin im IMDP bei einem Spaziergang zur Kirche Sagrada Família und einer Stadtrundfahrt zu den Sehenswürdigkeiten von Barcelona einschließlich der Olympischen Spielstätten überzeugen.

Unterwegs in Barcelona am Fußgängerüberweg mit Absenkung
Treffen mit der Selbstvertretungsorganisation OVI
Die Olympischen Spiele und die Paralympics von 1992 haben starke Verbesserungen für die Barrierefreiheit und die Selbstbestimmung der Menschen mit Behinderungen gebracht. Damit verbunden war auch der Ursprung der Selbstvertretungs-Gruppe „OVI – Oficina Vida Independent“ (dt: Büro für selbstbestimmtes Leben), mit der wir uns am Nachmittag trafen. Der Kontakt zu OVI kam über Dr. Corina Zolle von Rhein-Main-Inklusiv zustande, die mit Mati Febrer als Mitgründerin von OVI bereits gemeinsame Vorträge zum selbstbestimmten Leben mit persönlicher Assistenz gehalten hat.

Treffen im Stadtteilzentrum mit der Selbstvertretungsorganisation OVI
Für die olympischen und paralympischen Spiele wurden barrierefreie Wohnungen errichtet. In eine dieser Wohnungen konnte Mati Febrer einziehen. Sie lebte davor in einem Wohnheim und protestierte gegen die dort herrschenden Zustände. Unter anderem schmuggelte Sie ein verdeckt gedrehtes Video aus dem Wohnheim, das eine breite öffentliche Diskussion bewirkte.
In ihrer neuen Wohnung bekam Sie Ihre Unterstützung allerdings von einem Pflegedienst, bei dem sie keine Mitsprache über den Einsatz des Personals hatte. Ebenso wenig Einfluss hatte sie auf die Auswahl der Mitbewohnerinnen und Mitbewohner der Wohngemeinschaft Wohnungen. Inspiriert von einem Kongress in Barcelona mit Vertreterinnen und Vertretern der internationalen Independent Living Bewegung haben Mati Febrer und weitere Mitstreiterinnen und Mitstreiter bei der Stadtverwaltung für Angebote von persönlicher Assistenz gekämpft und waren im Jahr 2005 erfolgreich damit. Finanziert von der Stadt, der Region und dem Land kann die Organisation OVI seitdem als Assistenzgenossenschaft Assistentinnen und Assistenten zur Verfügung stellen, um Menschen mit Behinderungen ein selbstbestimmtes Leben außerhalb von Wohnheimen und unabhängig von familiärer Unterstützung ermöglichen.

Mati Febrer berichtet über ihr Leben und die Geschichte von OVI
Ansässig sind OVI mit einem Administrationsbüro in einem Stadtteilzentrum, von wo aus die Unterstützung von 13 Assistenznehmerinnen und Assistenznehmern organisiert wird. Allerdings gibt es in Barcelona bisher nur 56 Assistenznehmerinnen und Assistenznehmer. Hier gibt es noch einiges zu tun für die Aktivistinnen und Aktivisten er selbstvertretungorganisation OVI.
Einer davon ist Oriol Roqueta del Río, der bei unserem Treffen beeindruckend von seiner Geschichte zu seinem selbstbestimmten Leben berichtete. 2014 ist er von seinem Elternhaus ausgezogen, um mit seiner Freundin in Mexiko zu leben. Mit der Unterstützung der persönlichen Assistenz durch OVI lebt er mittlerweile wieder in Barcelona. Oriol Roqueta engagiert sich in der Selbstvertretung der Menschen mit Behinderungen. Sein Schwerpunkthema ist Sexualität und Behinderung.

Oriol Roqueta erzählt über seinen Weg zu seinem selbstbestimmten Leben
Wie auch bei der Entwicklung in Deutschland sind es die Menschen mit Behinderungen und Assistenzbedarf selbst, die entsprechende Angebote von Assistenzdiensten durchgesetzt und organisiert haben. Spanien ist geprägt durch die Unterstützung in den Familien. Hier gibt es einen großen Bedarf für Assistenzdienste, das haben die Aktivistinnen und Aktivisten von der Selbstvertretung OVI bei unserem Treffen beeindruckend deutlich gemacht.
Besuch beim Sozialministerium von Katalonien
Am Abschlusstag unseres Programms bekamen wir einen umfassenden Überblick über die Aktivitäten der katalanischen Landesregierung im Bereich der Menschen mit Behinderungen. Die Direktorin des Arbeitsbereiches Monica Rivas empfing uns mit einem ganzen Team ihrer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die uns über die Maßnahmen im Bereich Wohnen, Arbeit und Barrierefreiheit informierten.

Die Direktorin des Arbeitsbereichs Monica Rivas

Begrüßung und Vorstellung der Delegation im Sozialministerium von Katalonien
Ähnlich wie bisher in Rheinland-Pfalz ist die Landesregierung für größere Einrichtungen für Menschen mit Behinderungen und die Kommunen für die ambulanten Angebote zuständig. Auch hier findet ein Umsteuern statt und eine Strategie für die Umsetzung von Artikel 19 der UN-Behindertenrechtskonvention (Unabhängige Lebensführung und Einbeziehung in die Gemeinschaft) wird umgesetzt. Dabei stehen die Grundsätze von ambulanter Unterstützung vor stationäre Versorgung und die Personenzentrierung im Vordergrund. Außerdem ist die landesweite Ausweitung von Assistenzdiensten wie in Barcelona vorgesehen. Die Werkstätten für behinderte Menschen sind in Spanien so organisiert, dass dort 70 Prozent der Beschäftigten Menschen mit Behinderungen sind und der Mindestlohn in Höhe von 900 Euro gezahlt wird. Sie ähneln also eher unseren Inklusionsfirmen.
Wie in vielen anderen europäischen Staaten – außer in Deutschland – sind in Spanien private Betreiber öffentlich zugänglicher Dienstleistungen und Güter zur Barrierefreiheit verpflichtet. Das bedeutet, auch bestehende Gaststätten und Einkaufsläden haben häufig barrierefreie Zugänge und Behindertentoiletten. Das Sozialministerium hatte im vergangenen Jahr selbst 75 Informationsveranstaltungen zur Barrierefreiheit und den aktuellen Standards durchgeführt. Bei unserem Aufenthalt in Barcelona sind mir viele positiven Beispiele zur Barrierefreiheit aufgefallen, hierzu habe ich einen eigenen Artikel in meinem Blog geschrieben.
Der Besuch in Barcelona war sehr aufschlussreich. Die Großereignisse Olympiade und Paralympics 1992 waren Ausgangsbasis für die Umsetzung umfassender Barrierefreiheit und erste Ansätze selbstbestimmter Wohnformen. Die Vernetzung mit der internationalen Independent Living-Bewegung hat Menschen mit Behinderungen in Barcelona ermutigt, sich für persönliche Assistenz und Selbstbestimmung politisch einzusetzen. Stadt und Landesregierung haben die Partizipation der Menschen mit Behinderungen aktiv in ihren Maßnahmen und Strategien zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention eingebunden.
Dank der hervorragenden Vorbereitung durch mein Team und die Unterstützung der Spanisch- und Gebärdensprach-Übersetzerinnen und Übersetzer konnten wir wieder eine aufschlussreiche Inklusionstour unternehmen, die gute Hinweise für unsere Arbeit in Rheinland-Pfalz liefern konnte.
Vielen Dank an Raika Steinfurth für die Arbeit an diesem Artikel.

Gemeinsames Gruppenfoto vor dem Sozialministerium von Katalonien am Willy-Brandt-Platz