Inklusionstour nach Wien

Diese Woche hat unsere Inklusionstour nach Wien stattgefunden. Mit einem barrierefreien Reisebus, 38 Mitreisenden aus dem Landesteilhabebeirat, von kommunalen Behindertebeauftragten, der betrieblichen Schwerbehindertenvertretung, Werkstatträten und Bewohner_innenbeiräten, einem vollen Programm und viel Neugier auf die Umsetzung von Inklusion und Barrierefreiheit in Österreich sind wir am Montag gestartet.

Reisegruppe der Inklusionstour nach Wien

Am ersten Tag besuchten wir die Assistenzgenossenschaft WAG. Die Genossenschaft wurde von Menschen mit Behinderungen gegründet, die auf persönliche Assistenz angewiesen sind. Mittlerweile ermöglicht die WAG 300 Kundinnen und Kunden mit 650 Assistentinnen und Assistenten ein selbstbestimmtes Leben außerhalb von Einrichtungen, erläutert Roswitha Schachinger, Geschäftsführerin der WAG. Die WAG ist in Wien und angrenzenden Bundesländern aktiv. Die Finanzierung der Assistenz wird als Direktleistung in Form eines persönlichen Budgets an die Assistenznehmerinnen und -nehmer bezahlt, die dann die Assistenzleistungen bei der WAG einkaufen können. Problematisch ist die unterschiedliche Gesetzeslage, Assistenzleistungen sind in Österreich reine Ländersache. Auch die Vergütung der Assistenz ist noch nicht ausreichend gesorgt, die WAG braucht 25 Euro für die Stunde Assistenz, die Stadt Wien zahlt jedoch nur 16 Euro für die Stunde an Assistenzbedarf.

Von aktuellen politischen Erfolgen konnte Martin Ladstätter, Obmann von Bizeps, dem Zentrum für selbstbestimmtes Leben in Wien berichten. Barrierefreiheit ist ab 2018 für Unternehmen verpflichtend, wenn sie öffentlich zugängliche Produkte und Dienstleistungen anbieten. Bizeps wird eine der Verbände sein, die ein Klagerecht bei Verstößen gegen die Regelungen haben werden. Aus einer Selbsthilfegruppe hervorgegangen verbindet Bizeps Beratung von und für Menschen mit Behinderungen und politische Interessenvertretung.

Roswitha Schachinger, Geschäftsführerin der WAG und Martin Ladstätter, Obmann von Bizeps

In einer weiteren Gesprächsrunde erfuhren wir von Oswald Foellerer von seiner Arbeit in der Selbstvertretung von Menschen mit Lernschwierigkeiten, die vielfältig in die Entscheidungen und Gremien einbezogen werden. Der österreichische Behindertenanwalt Hansjörg Hofer berichtete von den Schlichtungsverfahren, die auf Grundlage des Bundes-Behinderten-Gleichstellungsgesetzes in Österreich durchgeführt werden. Seit dem Jahr 2004 können Menschen mit Behinderungen gegen Unternehmen vorgehen, die Menschen mit Behinderungen diskriminieren. Über 2400 Schlichtungsverfahren wurden in den vergangenen Jahren durchgeführt, davon waren 45 Prozent erfolgreich. Unternehmen sind bei festgestellten Diskriminierungen Schadenersatz zu leisten, wenn zum Beispiel eine Gaststätte mit einer Stufe für Rollstuhlnutzer_innen nicht zugänglich ist. Schlichtungsstellen gibt es in allen Ländern und beim Behindertenanwalt, der im Bundessozialministerium angesiedelt ist.

Bei den Verfahren wird die Zumutbarkeit für das Unternehmen geprüft. Kriterien sind die Wirtschaftsstärke des Unternehmens, die Kosten zur Beseitigung der Diskriminierung, die Zeit seit Inkrafttreten der gesetzlichen Regelung, die Möglichkeit öffentlicher Förderung und die Nutzung durch Menschen mit Behinderungen. Erfolgreiche Schlichtungsverfahren wurden zum Beispiel gegen den ORF geführt, der daraufhin 100 Prozent Untertitelung seiner Sendungen umsetzte oder Verkehrsunternehmen wurden zur Barrierefreiheit verpflichtet. Bisher sah das Gesetz jedoch keine Verpflichtung zur tatsächlichen Beseitigung der Diskriminierung vor. Ab 2018 ist für große Unternehmen auch dies geregelt und Behindertenverbände können als „Klagsvereine“ die Rechte einfordern.

Selbstvertreter Oswald Foellerer

Behindertenanwalt Hansjörg Hofer

Am Nachmittag ging es dann zur Wirtschaftsuniversität Wien. Renommierte Architekturbüros haben den neuen Campus und seine Gebäude zwischen Prater Und Messe Wien gestaltet. Auch hier waren Menschen mit Behinderungen als Expert_innen zur Barrierefreiheit beteiligt. Hier Eindrücke von der Besichtigung der Universität:

Rundgang über den Campus

Universitätsgebäude geplant von der Architektin Zaha Hadid mit Leitsystem für blinde und sehbehinderte Menschen und Rampen

Ausstattungselemente mit Braille-Beschriftung

Ute Germann in gelber Uni-Umgebung

Auch inhaltlich beschäftigt sich die Wirtschaftsuniversität Wien mit dem Thema Menschen mit Behinderungen. Professorin Heike Mensi-Klarbach vom Institut für Gender und Diversität an der WU Wien berichtete und diskutierte die Forschung zur Einbeziehung von Menschen mit Behinderungen in Unternehmen. Welche Rolle spielt die Ausgleichsabgabe und was hat die Haltung von Unternehmen zu Leistung ihrer Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern mit der Bereitschaft zur Beschäftigung von Menschen mit Behinderungen zu tun waren Themen der Gesprächsrunde zum Abschluss unseres Besuchs an der Wirtschaftsuniversität.

Gesprächsrunde mit Professorin Dr. Heike Mensi-Klarbach (rechts)

Am dritten Tag unserer Inklusionstour ging es in das Bundessozialministerium Österreichs. Kurz vor der Parlamentswahl hat das Parlament in in seiner letzten Sitzung noch umfangreiche gesetzliche Verbesserungen beschlossen. Das Budget des Bundes für Arbeitsmarktmaßnahmen wurde drastisch erhöht und das Bundesbehindertengleichstellungsgesetz erweitert berichtete der Sektionsleiter Mag. Manfred Pallinger. Besonders interessant für uns war, dass bei Pflegeleistungen die Kostenbeteiligung von Angehörigen in Österreich abgeschafft wurde.

Aus den Berichten vom Sektionsleiter Pallinger und seinen Kolleginnen und Kollegen wurde deutlich, wie wichtig die UN-Behindertenrechtskonvention für ein Umdenken in der Behindertenpolitik ist. Auch in Österreich wird seit 2012 mit einem Aktionsplan gearbeitet. Im Jahr 2016 hat Österreich die amtliche Übersetzung der UN-Behindertenrechtskonvention überarbeitet, auch mit der richtigen Verwendung des Begriffs „Inklusion“ statt „Integration“.

Sektionsleiter Pallinger bekommt einen rheinland-pfälzischen Staffelstab zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention überreicht

Von der Arbeit des Monitoring-Ausschuss berichtete seine Vorsitzende Christina Wurzinger. Das Monitoring der UN-Behindertenrechtskonvention findet in Österreich sehr Partizipationen statt. Dazu wurde ein Ausschuss mit sieben Vertreterinnen und Vertretern aus den Verbänden der Menschen mit Behinderungen gebildet. Zur Arbeit gehören auch zwei größere öffentliche Sitzungen des Monitoring-Ausschusses pro Jahr, in denen Menschen mit Behinderungen ihre Erfahrungen zu Schwerpunktthemen einbringen. Auch in jedem Bundesland wurde ein Monitoringausschuss eingerichtet. Bei den Sitzungen des Ausschusses findet halbstündlich eine Zusammenfassung in leichter Sprache statt, damit Alle, auch die Selbstvertreter_innen der Menschen mit Lernschwierigkeiten beteiligt werden. Eine Wirkung der Arbeit ist, dass das Sachwalterrecht (rechtliche Betreuung) kritisch diskutiert wurde und folgend in ein Erwachsenenschutzgesetz mit Schwerpunkt der unterstützten Entscheidungsfindung anstatt stellvertretenden Entscheidung umgewandelt wurde.

Christina Wurzinger stellt die Arbeit des Monitoringausschuss vor

Nach vielen interessanten Informationen ging es dann zu einer Stadtführung durch Wien.

Stadtführung vor der Hofburg

Fazit

Von unserem Besuch in Wien, unserer mittlerweile sechsten Inklusionstour, habe ich eine Fülle von Anregungen für unsere Arbeit mitgenommen. Beeindruckt hat mich die intensive Einbeziehung der Menschen mit Behinderungen beim Monitoringausschuss für die Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention. Ein Erfolg ist, dass Sachwaltungen – das entspricht unseren rechtlichen Betreuungen – gesetzlich neu geregelt wurden und nun die Unterstützung der Entscheidungsfindung im Mittelpunkt steht. Das vor kurzem die Kostenbeteiligung von Angehörigen bei Pflegeleistungen in Österreich abgeschafft wurden ist ebenfalls vorbildlich. Und ein gutes Beispiel sind die Antidiskriminierungsregelungen, bei den seit über zehn Jahren auch private Anbieter von öffentlich zugänglichen Diensten und Produkten einbezogen sind. In der letzten Parlamentssitzung vor der Wahl in Österreich wurde sogar beschlossen, dass die privaten Unternehmen nicht nur zu einem Schadenersatz verpflichtet sind, sondern die Barrieren auch beseitigt werden müssen. Zur Durchsetzung dieser Rechte wurde für die Behindertenverbände eine Klagebefugnis gesetzlich verankert. In diesem Punkt sind wir in Deutschland mit wirksamen Antidiskriminierungsregelungen für Menschen mit Behinderungen ein Notstandsgebiet und könnten eine Entwicklungshilfe aus unserem Nachbarland gut gebrauchen.