Konstruktiver Dialog am Genfer See

Fast 60 Personen war die deutsche Delegation stark. Vertreterinnen und Vertreter des Bundestags, der Bundesregierung und aus den Ländern, den Verbänden der Menschen mit Behinderungen und von der Monitoring-Stelle waren an den Genfer See gereist, um bei der Staatenberichtsprüfung vor dem Menschenrechtsausschuss zur UN-Behinderten-Rechts-Konvention mitzuwirken. Seit dem Jahr 2011 liegt der Staatenbericht Deutschlands vor, Parallelberichte von der BRK-Allianz der Behindertenverbände und der Monitoring-Stelle wurden geschrieben, umfangreiche Frage-Listen zusammengestellt und Antworten auf gestellte und noch nicht gestellte Fragen vorbereitet. Sechs Jahre nach Inkrafttreten der UN-Behinderten-Rechts-Konvention in Deutschland war die Anhörung vor dem Menschenrechtsausschuss, der so genannte „konstruktive Dialog“, eine Bewährungsprobe für Deutschland, wie die Staatengemeinschaft die Umsetzung der Konvention einschätzt.

Als Vertreter der Behindertenbeauftragten der Länder konnte ich bei der Anhörung dabei sein. Am Abend des Anreisetages gab es einen Empfang in der ständigen Vertretung Deutschlands. Ein barrierefreier Haupteingang für die Vertretung in Genf, anstelle des Umwegs über die Tiefgarage, wäre eine sinnvolle Maßnahme für  den Aktionsplan das Auswärtigen Amtes. Erfreulich war das Wiedersehen mit der Theresia Degener, die mit großen  Einsatz die UN Behinderten-Rechtskonvention mit auf den Weg gebracht hat und jetzt Vizevorsitzende des Menschenrechtsausschusses für die Konvention ist.

  
Empfang in der ständigen Vertretung in Deutschlands in Genf

  
Foto mit Dr. Theresia Degener und Jürgen Dusel aus Brandenburg

Der Donnerstagvormittag war den Verbänden der Menschen mit Behinderungen vorbehalten. Sie konnten ihre Einschätzung dem Ausschuss darlegen. Währenddessen empfing Botschafter Rücker einen Teil der Delegation im Palais des Nations. Dann ging es weiter zur internationalen Urheberrechtsorganisation (WIPO). Hier wurden Informationen über den Marrakesch Prozess gegeben. Die Vereinbarung ermöglicht weltweit den Austausch von Büchern in barrierefreien digitalen Formaten, um den Bücher-Hunger für blinde und sehbehinderte Menschen weltweit einzudämmen. Leider hängt die Ratifizierung Deutschlands von Kompetenzfragen zwischen der Europäischen Union und deren Mitgliedsstaaten ab, die noch nicht geklärt sind. Die Vereinbarung wird das Potenzial, den Informationsbedarf und die Qualifikation von Menschen mit Behinderungen weltweit enorm voranzubringen. 

Am Palais Wilson angekommen, dem Sitz des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Menschenrecht, gab es  Informationen über die Arbeit der Sonderberichterstatterin über die Rechte der Menschen mit Behinderungen. Auch im Hochkommissariat für Menschenrechte werden Experten in eigenen Angelegenheiten eingesetzt, um die Arbeit der UN–Organisation inklusiver zu gestalten. Darüber berichtete Facundo Chavez Penillas als Berater des Hochkommissariats. Er stammt aus Argentinien und war vorher Vizepräsident der lateinamerikanischen Allianz der Behindertenverbände. 

Hier Eindrücke von dem Besuch bei den UN Organisationen am Vormittag

  

Bild mit Botschafter Rücker, der deutschen Delegationsleiterin Staatssekretärin Gabriele Lösekrug-Möller aus dem Bundessozialministerium, der Bundesbehindertenbeauftragten Verena Bentele und den behindertenpolitischen Sprecherinnen und Sprechern dder Bundestagsfraktionen.

  

Gesprächsrunde bei der WIPO zum Marrakesch-Vertrag

  
Bericht aus der Arbeit des UN-Hochkommissariats für Menschenrechte

  
Das Palais Wilson in Genf – erster Sitz das Völkerbundes und jetzt Hauptquartier des UN-Menschenrechtskommissariats

Zweimal 3 Stunden dauerte am Donnerstagnachmittag und Freitagvormittag die Anhörung vor dem Ausschuss über die Rechte für Menschen mit Behinderung. Der Sitzungssaal im Palais Wilson war dicht besetzt. Vorne auf dem Podium hatte die Vorsitzende des Ausschusses, Maria Soledad Cisternas Reyes aus Chile, die Leitung der Delegation aus Deutschland und die Bundesbehindertenauftragte Verena Bentele Platz genommen. In einem Rechteck in der Mitte waren die Regierungsvertreterinnen und Vertreter von Bund und Ländern ageordnet. Um sie herum saßen 16 Mitglieder des Menschenrechtsausschusses, die aus verschiedenen  Ländern wie Thailand, Mauritius, Dänemark bis zu Nigeria stammen. Ein weiteres Drittel des Raumes war für die Vertreterinnen und Vertreter des Bundestages, des Deutschen Instituts für Menschenrechte und der Verbände der Menschen mit Behinderungen als Gäste vorgesehen.

In ihrer Einleitung betonte die Leiterin der deutschen Delegation, Staatsekretärin Lösekrug-Möller, dass Deutschland auf dem Weg zu einem inklusiven Land ist. Verena Bentele als Behindertenbeauftragte betonte in ihrem Eingangsstatement auch kritische Punkte, wie beispielsweise die nicht UN-konventionskonformen Ausschlüsse beim Wahlrecht. Der Leiter der Monitoring-Stelle Valentin Aichele kritisierte, dass der Staatenbericht Deutschlands nicht genug ins Detail geht. Er sieht große Versäumnisse, dass in den Bereichen Schule, Wohnen und Arbeit zu wenig getan wird, um inklusive Strukturen umzusetzen. Die Zahl der Menschen mit Behinderungen in Sondereinrichtungen nimmt nicht ab. Hier braucht es in Deutschland mehr Ideen und Impulse, um trennende Strukturen zu überwinden.

Berichterstatterin für Deutschland aus dem Ausschuss ist Diane Kingston aus Großbritannien. Positiv hebt sie die Aktionspläne des Bundes und der Länder und die Anerkennung der Gebärdensprache hervor. Auch ergeben die umfangreichen Parallelberichte der BRK-Allianz und des Deutschen Instituts für Menschenrechte ein klareres Bild über die Situation in Deutschland. Sie sieht einen unterschiedlichen Umsetzungsstand in den Bundesländern und sieht hier eine unangemessene Fragmentierung. Die UN-Behinderten-Rechts-Konvention gilt eindeutig für Bund und alle Länder. Der Ressourcenvorbehalt zur Umsetzung der Konvention darf nicht als Ausrede genommen werden, Maßstab ist die wirtschaftliche Stärke Deutschlands. 

Mit Sorge wird der Mangel an De-Institutionalisierung wahrgenommen. Der Aufbau eines inklusiven Schulsystems  kommt zu wenig voran. Zu viel Kinder mit Beeinträchtigungen werden in Sonderschulen unterrichtet, nur 75 % von Ihnen erreichen einen regulären Schulabschluss. 300.000 Beschäftigte in den Werkstätten für Menschen mit Behinderung haben keinen Anspruch auf Mindestlohn und die Übergänge auf den allgemeinen Arbeitsmarkt sind viel zu gering. Auch lässt sich kein Rückgang im Bereich der Wohnheime erkennen. Die Umsetzung des Betreuungsrechts wird kritisch eingeschätzt, hier gibt es Zweifel, ob die Selbstbestimmung und die Persönlichkeitsrechte der Menschen mit Behinderungen im Sinne einer unterstützten Entscheidungsfindung ausreichend berücksichtigt werden. Kingston merkte an, dass eine systematische Anpassung der Gesetze an die Erfordernisse der UN-Behindertenrechtskonvention nicht stattfindet.

Danach folgen die Fragerunden der Ausschussmitglieder, gestaffelt nach den Artikeln der UN-Behinderten-Rechts-Konvention. Anschließend hatten die Regierungsvertreterinnen- und vertreter die Möglichkeit zur Beantwortung der Fragen.

In den Fragerunden wurde die Kritik an dem mangelnden Abbau von Sondereinrichtungen weiter vertieft. Der Ausschuss brachte seine Sorge über die mangelnde Umsetzung eines inklusiven Schulsystem mehrmals zum Ausdruck. Bund und Länder wurden aufgefordert, gemeinsamen Aktivitäten zum Abbau von Sonderschulen zu unternehmen. Möglichkeiten für Menschen mit Behinderungen auf den allgemeinen Arbeitsmarkt wurden mehrfach hinterfragt. Die steigende Anzahl von Beschäftigten in den Werkstätten für Behinderte wurde in diesem Zusammenhang genannt. Auch Verpflichtungen zur Barrierefreiheit von Betrieben waren Thema. Kritisch hinterfragt wurde, dass 80 % der Mittel der Eingliederungshilfe in stationärer Angebote fließen, der ambulante Bereich hingegen nur einen kleinen Teil der Leistungen umfasst. Hier wurden konkrete Pläne gewünscht, Inklusion und De-Institutionalisierung voranzubringen. Ganz aktuell  wurden über die 5 Milliarden € angesprochen, die zur Finanzierung des Bundes-Teilhabegesetzes nicht mehr zur Verfügung stehen.

Bei der gesetzlichen Definition von Behinderung wurde mehrmals eine Anpassung an das menschenrechtliche Verständnis der UN-Behindertenrechtskonvention erwähnt. Das Konzept der angemessenen Vorkehrungen gesetzlich verbindlich zu regeln, war ebenfalls Inhalt vieler Fragen. Zur Barrierefreiheit wurden noch Fragen zu den Angeboten der Fernseh- und Rundfunkanstalten gestellt, zum Beispiel durch Gebärdensprach-Dolmetschen.

Die Vermeidung von Zwang besonders bei Menschen mit psychosozialen Beeinträchtigungen wurde intensiv in den Fragen der Ausschussmitglieder thematisiert. Auch das Betreuungsrecht und seine Umsetzung waren Gegenstand der Nachfragen. 

Das Notruffax wurde als nicht zeitgemäß zur Bewältigung von Gefahrensituationen angesehen. Auch die Barrierefreiheit von Frauenhäusern und Frauennotrufen war Thema im Ausschuss.

Die Regierungsvertreterinnen und -vertreter wiesen auf die bereits erfolgten Fortschritte zu Inklusion hin. Das in verschiedenen Ländern eingeführte Wahlrecht auf inklusive Schulformen bringt Fortschritte. Bei den stationären Wohnformen gibt es eine weitaus geringere Steigerung als bei den ambulanten Angeboten. Hier wurde auf das Bundesteilhabe-Gesetz als wichtiges Vorhaben verwiesen, das Selbstbestimmung für den Bereich Wohnen und Arbeiten voran bringen soll. Die lange gewachsenen Strukturen der sozialen Sicherung garantieren eine gute existentielle Unterdtützung, sind aber schwierig auf Inklusion umzusteuern.

Teil des Bundes-Teilhabegesetzes soll auch das Budget für Arbeit sein, das die Übergänge von der Werkstatt auf den allgemeinen Arbeitsmarkt fördern soll. Die Zahl der Werkstatt-Beschäftigten wird weniger mit Steigerungen im Zugang als mit einem höheren Bestand begründet.

Für die Umsetzung von Barrierefreiheit wurde auf Zielvereinbarung und Umdenken in der Wirtschaft verwiesen. Außerdem soll das Bundes-Behindertengleichstellungsgesetz novelliert werden. Hier soll auch die Anpassung des Behinderungsbegriffs angegangen werden. Für mich ist nur wenig nachvollziehbar, dass angemessene Vorkehrungen als unbestimmter Rechtsbegriff  eingeschätzt wird, der nur schwer umzusetzen ist.  In den Vereinigten Staaten wird seit über 25 Jahren und auch in vielen anderen Ländern nach diesem Prinzip erfolgreich zum Abbau von Barrieren vorgegangen.

Wenig Verständnis bei den Beobachterinnen und Beobachtern hinterließen auch die Erläuterungen zu den Wahlrechtsausschlüßen. Der Vergleich, Wachkomapatienten würde auch nicht die Führung eines Flugzeuges anvertraut, war überhaupt nicht überzeugend.

Das Betreuungsrecht wurde ausführlich erläutert.Thema in diesem Zusammenhang waren Zwangsmaßnahmen in Einrichtungen. Hier wurde auf die Notwendigkeit richterlicher Beschlüsse hingewiesen. Durch Aufklärungsmaßnahmen wurde die Zahl der richterlich genehmigten freiheitsentziehenden Maßnahmen von 100.000 auf 75.000 reduziert. Die Umsetzung des Betreuungsrechts wird derzeit evaluiert, um Maßnahmen zur Beseitigung von Defiziten in der Anwendung des Rechts auf den Weg zu bringen. 

In seinen Ausführungen und Fragen machte der Ausschuss deutlich, dass Deutschland einen konkreten Plan für die Umsetzung von inklusiven Strukturen und zum Abbau von trennenden Sondereinrichtungen braucht. Der konstruktive Dialog im Ausschuss hat hierfür wichtige Impulse und Anregungen gegeben. Mitte April werden die abschließenden Empfehlungen des Ausschusses fertig gestellt. Sie werden uns in den nächsten Jahren in der Politik von und für Menschen mit Behinderungen im Sinne der UN Behinderten-Rechts-Konvention weiter beschäftigen. Nach meiner Ansicht waren die Tage in Genf ein Erfolg. Bis zum nächsten Staatenbericht in einigen Jahren müssen wir uns in Bund, Ländern, Kommunen – und auch in der Zivilgesellschaft – noch erheblich anstrengen, um die in uns gesetzten Erwartungen zur Umsetzung der UN Behinderten-Rechts-Konvention erfüllen zu können.

Hier noch einige Eindrücke aus Genf

  
Vorbereitung der Delegation auf die Anhörung

   
Sitzungssaal des Menschenrechtsausschusses für Menschen mit Behinderungen im Überblick

 

Das Podium des Ausschusses

  

Beobachterinnen und Beobachter der Ausschuss Sitzung

 

Gruppenfoto nach der Ausschusssitzung

  
Blick von der Terrasse des Palais Wilson auf den Genfer See

  
Panorama vom Genfer See

   
Die Fontäne, das Wahrzeichen von Genf

 

Die Altstadt von Genf

 

 Das Denkmal für Jean-Jacques Rousseau

 

Abendstimmung 

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